Digitalisierung als Gefahr für kindliche Entwicklung und zwischenmenschliche Beziehungen– Vortragsabend des AWO Familienzentrums mit Prof. Dr. Joachim Bauer
Die zunehmende Digitalisierung gefährdet die kindliche Entwicklung, warnt der Hirnforscher Prof. Dr. Joachim Bauer beim Vortragsabend des AWO Familienzentrums am vergangenen Mittwoch im kleinen Saal des Bürgerhauses. Vor knapp über 60 Besuchern betonte er die Wichtigkeit von Beziehungen für Kinder und kritisierte den übermäßigen Medienkonsum.
Es gilt für Kinder anregende Umwelten zu schaffen und den Medienkonsum von Kindern so gut es geht unter Kontrolle zu bringen. Und letzteres wird immer schwieriger. Das bereitet Professor Bauer, einem der renommiertesten Wissenschaftler des deutschsprachigen Raumes, zunehmend Sorge.
Er sprach über beziehungsorientierte Pädagogik und wie diese Beziehung zu unseren Kindern durch digitale Endgeräte und diverse Apps gestört wird, weil sich viele immer mehr aus der Realität in die digitale Welt zurückziehen und von dieser regelrecht absorbiert werden.
Wie wichtig dem Menschen die Beziehung ist, zeige sich gleich unmittelbar nach der Geburt – der Mensch sei von Natur aus ein auf gelingende Beziehungen konstruiertes Wesen. Die Bezugspersonen, in der Regel die Eltern, treten mittels Resonanz- und Spiegelprozessen mit dem Baby oder dem Kleinkind in Kontakt. Nur so könne der Säugling überhaupt ein „Selbst“ entwickeln.
Bauer: „In den ersten Lebensjahren fördern wir die Entwicklung von Intelligenz vor allem dadurch, dass wir den Kindern Bezugspersonen zur Verfügung stellen, zu denen es Vertrauen hat und bei denen es sich sicher aufgehoben fühlt.“
Diese wichtigen Beziehungen (auch jene unter Erwachsenen selbst) würden heutzutage aber oft massiv unter den Ablenkungen durch das Smartphone leiden, sagt Professor Dr. Joachim Bauer. Vor erst ca. 15 Jahren hat es die große Masse der Bevölkerung weltweit erreicht. Seitdem zieht es mit diversen Apps zunehmend die Aufmerksamkeit der Menschen ab. Bauer: „Jedes Mal, wenn der Kontakt zum Kind durch einen Blick aufs Smartphone abgebrochen wird, kriegt das Kind eine Message: ‚Es gibt etwas Wichtigeres als mich.‘“
Die Folgen sind eklatant, Professor Bauer nennt folgende: Die Sprachentwicklung verzögert sich, die Aufmerksamkeitsfokussierung entwickelt sich schlechter, die Intelligenzentwicklung leidet, auch die Rechen- und Schreibleistungen sind schlechter, auch die Emotionsregulation, die das Kind mit sich selber macht, läuft nicht mehr so gut. Kinder lernen üblicherweise viel durch und über ihren Körper (sie zählen beispielsweise anfänglich mit den Fingern) – unter anderem geht das verloren.
Zudem funktioniert Erziehung laut Professor Bauer nur, wenn es die nötige Bindung zu echten Menschen gibt. Chatbots, Roboter oder das Smartphone können reale Bezugspersonen nicht ersetzen, sagt der Psychiater.
Die Faszination und Sogwirkung, die von digitalen Geräten und insbesondere den Smartphones ausgehen erklärt er neurowissenschaftlich mit der Gier der Motivationssysteme des menschlichen Gehirns nach sozialer Beachtung und Anerkennung. Entsprechend würden sie das Verhalten steuern. Smartphones sind, selbst wenn sie keinen Ton von sich geben, eine Art Versprechen: „Dass sich Leute melden, die etwas von mir wollen. Das Smartphone verspricht: Du bist wichtig und wirst gesehen. Die dadurch erzeugte Ablenkung ist derart stark, dass Testpersonen sich die Inhalte von gelesenen kurzen Texten nicht mehr so gut merken konnten, wenn während des Lesens ein Smartphone auf dem Tisch lag.“
Die Sogwirkung von Smartphones gefährdet nach Prof. Bauer die Qualität unserer zwischenmenschlichen Beziehungen. Ständig könne man beobachten, wie kleine Kinder versuchen, in Kontakt zu ihrer begleitenden erwachsenen Bezugsperson zu kommen, diese aber nicht vom Handy wegkommt und dem Kind damit signalisiert: Es gibt Wichtigeres als dich. Kinder können sich nicht wehren. Wenn man ein solches Verhalten – in der Forschung spricht man von „Phubbing“ – anderen Erwachsenen zumutet, dann zeigen Studien, dass sich die entsprechenden Beziehungen verschlechtern. Das betrifft Paarbeziehungen genauso wie Beziehungen zu Kollegen.
Wenn die Sogwirkung des Smartphones in Suchtverhalten umschlägt, entstehe auch ein medizinisches Risiko. In Deutschland seien zwei Millionen Jugendliche zwischen 10 und 17 Jahren täglich stundenlang in Sozialen Medien unterwegs, hunderttausende junge Leute in dieser Altersgruppe würden tagtäglich bis in die Nacht gamen. Intensivnutzer von Sozialen Medien würden ihr Risiko für Angststörungen und Depression erhöhen, Intensivnutzer von Videospielen würden ihr analoges Leben vernachlässigen und sich zu wenig bewegen.
In Bezug auf Anwendungen mit generativer Künstlicher Intelligenz weist Prof. Bauer auf viele Bereiche hin in denen KI helfen kann, große Datenmengen nach Mustern zu durchsuchen und bisher unerkannte Zusammenhänge aufzudecken. Auch hier bestehe jedoch grundsätzlich die Gefahr einer Sogwirkung. Eine Sogwirkung könne insbesondere von sprechenden KIs, also von Chatbots ausgehen, die nicht nur banale Unterhaltungen, sondern auch Arzt- oder Psychotherapie- Gespräche führen können. Diese KIs seien so gut, dass Nutzer heute nicht mehr unterscheiden könnten, ob sie es mit einem Menschen oder mit einer KI zu tun haben. Bereits jetzt gäbe es viele Nutzer, die mit einem Chatbot eine Dauerbeziehung eingegangen sind, als Ersatz für eine echte zwischenmenschliche Beziehung.
Prof. Bauer betont während seines Vortrags regelhaft, dass digitale Produkte nichts Schlechtes sind, sie können uns assistieren. Damit wir sie – und nicht sie uns – beherrschen, müssten wir jedoch Regulierungen installieren, die sicherstellen, dass der Mensch die Kontrolle behält. Wir Menschen müssten wieder an uns glauben. Wir sind verletzliche, sterbliche Wesen, aber nur wir sind wirklich lebendig, nur wir können wirklich fühlen und lieben. Maschinen mit KI könnten nur simulieren, sie hätten Gefühle, sie haben sie aber nicht.